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Ahanit Lucindra

Mystery-Thriller

Manifestierte Wut- Leseprobe

Prolog 

Das Wohnzimmer roch nach Omas frisch gebackenem Apfelkuchen, süß, warm, mit wiederkehrender Erinnerung – und nach dem dumpfen Staub vieler Bücher, der eine gemütliche Atmosphäre verbreitete.

 

Marie Schneider saß im Schneidersitz auf dem Teppich. Matheheft offen, Bleistift in der Hand.

 

Sie liebte diesen Teppich. Weich, flauschig, sicher.

Ihre Mutter schimpfte oft, »Das verdirbt dir den Rücken!«

Doch Marie hatte gesehen, dass Kinder in Indien das auch machten. Wenn es dort OK war, dann hier auch.

 

Die Aufgaben waren leicht. Zu leicht.

Die Langeweile klebte an ihr, wie Kaugummi unter der Bank.

 

Sie seufzte, kritzelte eine Sonne.

Draußen sangen Vögel. Ein Nachmittag wie aus dem Bilderbuch.

 

Ein Geräusch irritierte sie. Ein Flüstern?

 

Marie zuckte zusammen, lauschte.

Nur das Summen des Kühlschranks.

 

Sie malte weiter. Wieder mischte sich etwas Fremdes ins Kratzen des Bleistifts.

Ein Wispern. Rascheln. Wie welke Blätter, die über Pflaster geweht wurden.

 

Sie sah sich um. Nichts … und doch …

 

Vielleicht kam es von draußen?

Sie blickte zum Fenster. Es war geschlossen, draußen windstill.

Das Rascheln wurde zu einem Lachen.

 

Hell, kindlich, fröhlich und dennoch irgendwie falsch. Dumpf wie eine Glocke unter Wasser.

Marie stand auf. Niemand war im Haus, außer ihr.

 

»Ist da jemand?«

 

Das Lachen kam näher, ohne Schritte. Nur der Klang trieb durch die Räume.

 

Marie sah sich um. Stofftiere starrten, Porzellanpuppen blickten ins Leere.

Keine Bewegung. Nichts, was man als Ursprung des Lachens benennen könnte.

 

Etwas war falsch.

Sie spürte ein Kribbeln im Nacken. Gänsehaut schob sich langsam über die Arme.

 

»Hallo?«

 

Das Lachen schien sie zu umkreisen, schloss sich wie ein Netz mit ihr im Zentrum.

Es kam von hinter dem Sofa, schien es.

 

Marie hielt den Atem an, kletterte hinauf, lugte hinter die Kissen. Sah aber nichts als Leere und Schatten.

 

»Wer ist da? Wollt ihr mit mir spielen?«

 

Sie zwang sich zu lächeln. Das Lachen klang jung, ungefähr ihr Alter. Niemand Böses, oder?

Sie hörte etwas, sah niemanden.

War das noch OK?

War jemand hier oder nicht?

Sollte sie vielleicht lieber ihre Eltern rufen? Oder die Polizei?

 

Ein Geräusch vom Puppenhaus.

Prinzessin Rosalie saß aufrecht.

Ihre gemalten Augen, Marie sah genauer hin. Sie waren anders, lebendig.

 

Die Puppe blickte zurück.

 

»Ich hab dich gestern ins Bett gelegt …«

 

Marie fröstelte. Kälte kroch in den Raum.

Das Lachen lullte sie ein, versprach Fröhlichkeit – doch ihr Bauch warnte.

 

Sie schlug die Warnung in den Wind. Was sollte schon sein. Die anderen lachten, also war es doch OK mit ihnen zu spielen.

Andere Kinder hatten selten Zeit.

Jetzt war jemand da, wenn auch unsichtbar.

Sie setzte Rosalie auf den Stuhl, erzählte eine Geschichte.

 

Das Lachen spaltete sich in viele Stimmen, tanzte um sie wie Motten ums Licht.

 

Sie war nicht mehr allein.

Marie lächelte. Nun hatte sie endlich Freunde.

 

*****

 

Der Gang der Nachmittagsbetreuung war kalt.

Nicht nur wegen des Steinbodens und Neonlichts, vor allem wegen Frau Gruber.

 

Finn spürte ihren Blick. Schneidend.

 

»Finn ist immer noch nicht fertig mit den Aufgaben«, sagte sie. »Ständig lässt er sich ablenken. Er versteht nicht, dass er erst fertig sein muss, ehe er spielen darf.«

 

Finn senkte den Kopf.

Hitze brannte in seinen Wangen, Herzschlag dumpf und schwer.

 

Er wollte spielen, wie alle anderen.

Verstecken, Puppen, Lego, einfach nur Ablenkung von den Hausaufgaben.

 

Die Stimmen der Erwachsenen prasselten auf ihn ein, Frau Gruber und seine Mutter, das ging nie gut für ihn aus.

Ein Name fiel.

»Marie … hat die zweite übersprungen. Und trotzdem ist sie die Beste.«

 

Dieser Name ließ seine Ohren rauschen. Hitze stieg in ihm auf.

 

Er hasste diesen Namen, dieses Mädchen.

Ihre Stimme, ihr Lächeln, ihre perfekten Noten.

Und seine Mutter, die ihn mit Miss Perfekt verglichen.

Die Worte bohrten sich wie Nadeln in sein Fleisch.

 

Seine Finger kribbelten. Den ganzen Tag schon.

Jetzt kam etwas Neues hinzu, ein Ziehen, Drängen, als wolle etwas durch ihn hindurch.

 

Er spürte Bestätigung, Überzeugung, eine unbändige Energie.

Finn sah zu den Papieren in Frau Grubers Arm.

Stellte sich vor, wie sie fielen. An die Ruhe die das bringen würde.

 

‚Fallt‘, dachte er.

 

Die Blätter zitterten ohne einen Lufthauch.

Konnte er vielleicht …

‚Fallt Jetzt!‘, befahl er in Gedanken.

 

Und sie gehorchten, stoben auseinander wie erschreckte Vögel.

Frau Gruber fluchte, bückte sich.

 

Das Gespräch über ihn beendet.

Stille. Endlich.

Seine Mutter gönnte ihm nur kurze Sekunden.

»Finn, komm. Du machst die Hausaufgaben daheim fertig.«

»Aber ich bin verabredet …«

»Tja. Wenn du mehr wie Marie wärst …«

 

Der nächste Stich, wie ein Messer in den Bauch.

Wütend folgte er seiner Mutter.

Etwas zerbrach in ihm.

 

Er drehte sich noch einmal zu Frau Gruber um und befahl: ‚Fliegt!‘

 

Die Blätter explodierten, wirbelten durch den ganzen Flur.

Frau Gruber taumelte zurück.

 

Niemand hatte etwas gesehen.

Finn lächelte.

 

Seine Mutter ging weiter, ahnungslos.

Er folgte, sein Herzschlag wurde ruhig. So etwas wie  Zufriedenheit breitete sich in ihm aus.

 

Vielleicht konnte er auch Marie eine Lektion erteilen.

 

*****

 

Das Lachen erfüllte das Haus.

Zart. Nah. Fröhlich.

 

Es hielt Marie gefangen in der Illusion echter Freunde.

Es flatterte durch die Räume wie ein Schmetterling mit zerschlissenen Flügeln.

 

Marie jagte ihm hinterher, barfuß, atemlos.

Eine Jagd ohne Beute. Nur Schatten und Stimmen.

 

»Fangen!«, hauchte es an ihrem Ohr.

 

Sie rannte, kicherte.

Die Schatten zogen sie wie Wind in alle Richtungen.

 

Wohnzimmer. Flur. Küche. Zurück.

 

Stimmen überall, hinter ihr, vor ihr, in ihr.

 

Dann ein Schrei. Hoch, wütend. Warnend.

 

Marie erstarrte.

Irgendwas hatte sich geändert.

So ein Schrei bedeutete Gefahr.

 

Die Vase auf dem Kaminsims. Groß, blau.

Sie wankte, fiel, ohne Berührung.

 

Der Aufprall war laut, wie ein naher Donner.

Scherben sprangen in alle Richtungen.

 

Dann kam die Stille.

Nicht nur leise, sondern totenstill.

 

Die Stimmen waren weg.

Das Lachen erloschen.

Die Luft zäh wie Flüssigkeit.

 

Marie stand da.

Versteinert.

 

»Was …? Warum …?«

 

Was war mit ihren Freunden?

Waren es Freunde?

 

Etwas war wütend geworden. Wütend auf sie.

Aber warum?

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